TOTAL RECALL – Symposium, Prof. Dr. Frank Hartmann

f_hartmann,

Am 8. September 2013 dreht sich beim TOTAL RECALL – Symposium alles um die Enstehung und Geschichte verschiedener Archivierungstechnologien. So wird Prof. Dr. Frank Hartmann, Medienphilosoph und Professor für visuelle Kommunikation, über Paul Otlet, einen der Erfinder moderner Archivierungssysteme, so wie wir sie heute kennen, sprechen. Als Einstimmung gibt es hier im Ars Electronica Blog ein ausführliches Interview, das erste in einer Reihe, in der die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des diesjährigen Symposiums vorgestellt werden.


Prof. Dr. Frank Hartmann

Aus Ihrer Sicht als Medienphilosoph: Welche Rolle spielt Erinnerung für uns als Menschen, für uns als Gesellschaft?

Erinnerung darf nicht individuell betrachtet werden, denn sie ist ein kollektives Phänomen, so wie es beispielsweise in Mythen, Märchen und Erzählungen auftritt. Wir „Modernen“ denken oft nur an das humanistisch gebildete Individuum und seine Kapazitäten, dabei zielen die entsprechenden Kulturtechniken des Speicherns und Übertragens auf das kulturelle Gedächtnis, welches im modernen Bildungskonzept völlig unterschätzt bzw. ganz einfach vorausgesetzt wird. Wir sind auch völlig fixiert auf aktuelle Kommunikation, dabei sind es die Übertragungsleistungen von einer Generation auf die nächste, die Kultur begründen.

Es ist ganz einfach – ein menschliches Leben reicht einfach nicht aus, um sich etwa medizinisches oder architektonisches Wissen von Grund auf anzueignen. Der Mensch baut auf Erfahrungen anderer, auf Erprobungen und Fehlern früherer Generationen. Anders geht es nicht, denn Intelligenz ist eine kollektive Leistung: deshalb haben wir Sprache, Schrift, Bilder, Archive, Institutionen etc. – Ideen können nur wirken, wenn sie übertragen werden. Das Gedächtnis ist also die Tiefendimension jeder Kultur und hier haben wir auch die grundlegende Bedeutung von Mythen, Religionen und Gesetzen.

Wie Paul Valéry einmal festhielt: „Der größte Triumph des Menschen über die Dinge ist, dass er es verstanden hat, die Wirkungen und Früchte der Arbeit vom Vortag auf den nächsten Tag zu übertragen. Die Menschheit ist erst auf der Masse dessen, was andauert, groß geworden.“ Dieser Gedanke scheint so einfach, impliziert jedoch, dass Erinnerungstechniken in unserer Kultur eine weitaus größere Rolle spielen als die viel gerühmten Geistesblitze und sogenannten Erfindungen.

Wie wird das Erbe unserer aktuellen Generation, unserer Epoche aussehen, was werden wir hinterlassen, in welcher Form?

Das ist eine knifflige Frage, denn wer sind „wir“ denn? Und „wem“ hinterlassen? Historisch wurden Erinnerungen jener, die man für unbedeutend hielt, systematisch ausgelöscht. Dabei sind die Herrschenden nicht unbedingt diejenigen, welche die besten Ideen haben. Auch ändert sich mit der Zeit das, was als wichtig erachtet wird, weil neu kontextualisiert werden muss. Wer also sind die, denen unser Beitrag mal wichtig sein wird oder auch nicht? Lange zählte als Stimme aus der Vergangenheit nur das, was es Chronisten wert war, aufgeschrieben zu werden, und das war zweifellos die Perspektive der Macht. Dann rückte allmählich auch das Alltagsleben ins Zentrum des Interesses: man findet zwischen irgendwelchen Balken etwa Unterwäsche aus dem Mittelalter, die uns sehr viel Aufschluss über das Leben damals geben kann. Unterhosen – daran hätte ein Chronist in seinem Skriptorium sicher nicht gedacht – was wichtig ist, wird doch aufgeschrieben!

Jede Überlieferung prämiert ein bestimmtes Medium. Meist haben wir nicht die Möglichkeit, diesen Filter zu hintergehen, es sind nur indirekte Rückschlüsse möglich, also etwa darauf, was eben niemals aufgeschrieben wurde. Aber es erschliesst sich uns nicht unmittelbar. Ein Gedanke modernen Archivierens ist es, unabhängig vom aktuellen Interesse möglichst breit ein Thema zu dokumentieren, damit auch bei geänderter Interessenlage entsprechende Daten zur Verfügung stehen. Was uns also wichtig ist, könnte künftig ganz anders gesehen werden, denn wir kennen ja nicht die Prämissen, nach denen dann beurteilt werden wird. Die Einstellungen ändern sich, und natürlich auch die Speichermedien.

Das vergangene Jahrhundert war das erste, das mit fotografischer Erinnerung ausgestattet war. Es entstand ein völlig neues Bildgedächtnis. Was nun hinterlassen wird, wage ich nicht anzudenken, weil die Entwicklungen und Präferenzen unklar sind. Albrecht Dürer wusste, dass seine Gemälde noch in 500 Jahren Bestand haben werden, und das wird sogar in noch mal 500 Jahren gelten. Wer produziert heute noch etwas derartiges? Und ist es überhaupt wünschenswert? Was dann von heute noch erinnert werden wird (und es wird viel sein) hängt von den Übertragungen ab, für die man sich technisch und kulturell entscheidet.

Dazu kommt, dass unsere Speichertechnologien ziemlich fragil sind – für die Langzeitarchivierung von Kulturgut setzt man deshalb nicht auf Elektromagnetismus, sondern bis heute noch auf Mikrofilm, der in Stahlfässern verschweisst und im zentralen Bergungsort (das ist der Barbarastollen im Breisgau) gebunkert wird. Soweit der umgesetzte „Kulturgutschutz“ nach Haager Konvention.

Medien prägen unsere Wahrnehmung, können Meinungen bilden und beeinflussen. Welche Mittel stehen den Medienmachern im Jahr 2013 und in näherer Zukunft zur Verfügung, um das Publikum zu beeinflussen, gibt es neue Erkenntnisse, neue Tricks?

Allen, die gern Bleibendes hinterlassen wollen, empfehle ich als Übung in Demut einen ausgedehnten Ausflug zu den Stätten des Kulturerbes der Menschheit.

Sie unterrichten im Bereich visuelle Kommunikation, welchen Stellenwert nimmt dieser Bereich für das Erzeugen von Erinnerungen ein, auch im Vergleich zu anderen Kommunikationswegen?

Schon Aristoteles privilegiert den Sehsinn im Rahmen der menschlichen Wahrnehmung. Ich bin da eher skeptisch – die Prämierung einer bestimmten Sinneswahrnehmung hängt immer vom Interesse ab, mit der sie vorgegeben wird. Aber unsere Kultur verzeichnet eine ungeheure – ich sage jetzt nicht: Bilderflut, sondern Proliferation von Sichtbarkeiten. Es ist ungeheuerlich, was dem Auge zugemutet wird. Wenn eine Kultur der Erotik im Verhüllen und verheissungsvollen Andeuten besteht, dann ist unsere Kultur der lückenlosen Explizitmachung als eine schamlos pornografische zu bezeichnen.

Aber wir brauchen die Ebene des Visuellen ja auch aus Gründen der Funktionalität, nachdem unsere Technik sich der sinnlichen Wahrnehmung entzogen hat, sie findet doch hinter den grafischen Oberflächen statt. Bilder, Oberflächen, Interfaces überall, und damit verbundene Gestaltungsfragen, deren Erforschung weit über das hinausgeht, was etwa Bildwissenschaftler als theoretisches Problem verhandeln. Es geht eben nicht um die Bilder, sondern um die signifikante Verlagerung der Kommunikationen ins Visuelle.

Das hat zunächst mit der Ausdehnung von Oberflächen zu tun: Papierproduktion und grafische Reproduktion „entfalten“ sozusagen das kulturelle Geschehen weit aus, und heutzutage tun die allgegenwärtigen Bildschirme ein Übriges. Und ob wir das nun wollen oder auch nicht: um uns zu orientieren, müssen wir uns auf diese entgrenzten Oberflächen einlassen, sonst nutzt das ganze technische „Know-How“ (das Können im Sinne eines Potenzials) nämlich gar nichts. Ich unterscheide nun ein „schwaches“ Können, das sich im Rahmen von Gegebenheiten bewegt, und ein „starkes“ Können, das neue Möglichkeiten hervorbringt. Man kann etwa Studierenden beibringen, wie bestimmte Farben oder Schriften wirken, doch das ist banal. Man kann ihnen aber auch beibringen, bzw. sie dabei unterstützen, nicht konform zu denken.

Ein Beispiel: diskutieren wir darüber, wie am Beispiel der Plakette an der Raumsonde „Pioneer“ die grafische oder typografische Verständlichkeit verbessert werden kann? Oder diskutieren wir darüber, ob die Idee einer solchen Kommunikation mit Ausserirdischen überhaupt Sinn macht? Das gilt im übertragenen Sinn auch für künftige Generationen. Wer sind wir denn schon, dass wir dauernd glauben etwas „kommunizieren“ zu müssen.

Dass das Visuelle in der Medienentwicklung seit der Fotografie eine ungeheure Aufwertung erfahren hat, kann aber auch funktionalistisch betrachtet werden. Es ist die visuelle Ebene, die rasche Orientierungen erlaubt. Niemand braucht etwa Verkehrszeichen, solange es kein entsprechendes Verkehrsaufkommen gibt. Es gibt ausufernde Phantasien über eine „Idealsprache“, aber visuelle Zeichen sind unschlagbar wenn es um interkulturelle Verständlichkeit geht. Den Versuch aber, eine eindeutige Kommunikationsgrundlage für die geschichtliche Überlieferung zu schaffen, sollten wir gar nicht erst machen.

Überlassen wir die Definition dessen, was wichtig sein wird, lieber der Intelligenz künftiger Generationen. Wir können das heute nicht antizipieren.

Ikonen sind zentral für unsere kollektive Erinnerung: Wie erschafft man Ikonen, wovon hängt ihre Wahrnehmung ab? Wie schafft man es, in der Informationsflut nicht unterzugehen?

Ich bin sehr skeptisch, was diese Rede von der Informationsflut angeht. Grundsätzlich sind immer mehr Informationen vorhanden, als der menschliche Sinnesapparat verarbeiten kann. Im Laufe der Evolution hat sich also ein Schema der Selektion gebildet. Die physiologische Begrenzung wird nun durch technische Medien wieder entgrenzt, und wir sehen beispielsweise mit dem Mikroskop oder dem Teleskop Dinge, die mit dem freien Auge gar nicht sichtbar sind. Somit erweitert sich unser Weltbild. Wie man das nun beurteilt ist eine ganz andere Sache. Dazu ein Beispiel: die Medien belästigen uns in letzter Zeit immer häufiger mit sogenannten „Aufnahmen“ aus den Tiefen des Universums, dabei könnte ein Mensch in einem Raumschiff dort draussen dies nie und nimmer sehen. Es handelt sich um Bilder, welche die NASA aus Daten so konstruiert hat, wie man sich vorstellt dass es sein könnte. Ich nenne es das Weihnachtsmann-Syndrom: den Weihnachtsmann gibt es ja wirklich, sobald nur bitte alle ganz fest dran glauben. Das führt uns jetzt zu den Ikonen, die im Wesentlichen ja visuelle Verdichtungen sind.

Die Geschichte ist voll von Versuchen, solche Verdichtungen zu schaffen und zu tradieren, und einen schlaffen Abklatsch davon liefert die Markenartikel-Industrie. Aber auch die Intellektuellen sind nicht davor gefeit: jenseits aller geistigen Aneignung figurieren etwa Franz Kafka oder Walter Benjamin als Ikonen einer intellektuellen Stimmung. Das heisst, ein bestimmtes Foto, das zur visuellen Stereotype wurde (wie etwa Einstein, die Zunge herausstreckend).

Wir leben in einer obszönen Zeit: man begegnet im Supermarkt Menschen, die T-Shirts mit dem Konterfei von Che Guevara tragen und gar nicht wissen, wer das überhaupt war. Sieht halt cool aus, so wie Benjamin mit seiner Nickelbrille. Ich wage nicht, daraus ein Fazit zu ziehen. Was funktioniert oder nicht hängt eben von der Interpretation ab. Wer versucht, ein ganz bestimmtes „Bild“ zu hinterlassen wird womöglich ganz anders interpretiert werden als es ihm lieb ist.


Paul Otlet

Beim Symposium werden Sie über Paul Otlet sprechen, was können wir auch heute noch von ihm lernen?

Paul Otlet ist Zeuge einer vergangenen Epoche, der uns aber heute noch beeindrucken kann mit der Radikalität seiner Fragestellungen. Er war kein großer Theoretiker, legte aber größte Hoffnung in die Ordnung des Wissens. Mich hat überrascht, dass vor gut hundert Jahren bereits Fragen gestellt wurden, die wir erst mit dem Internet in Verbindung bringen. Faszinierend war sein Weitblick, dass es eben nicht mehr um das in Büchern gespeicherte Wissen geht, sondern um neue Formen der Produktion und Distribution von Wissen beispielsweise über die neuen Telegrafennetze.

Wir lernen an dem Beispiel von Otlet aber auch, dass Wissen nicht die Politik ersetzen kann; man ist immer wieder der Illusion aufgesessen, dass es im Zeitalter des Wissens keine Kriege mehr geben würde. Bekanntlich ist es anders gekommen. Interessant ist auch, dass die großen Intellektuellen dieses Thema der neuen Wissensformate offenbar verpasst haben, sie lebten ganz in ihrer Bücherwelt. Otlet hingegen richtet seinen Blick entschlossen auf eine Welt, in der das Bildungsprivileg disponibel geworden ist. Hier besteht eine große Nähe zu anderen Sozialreformern wie H.G. Wells, Wilhelm Ostwald und Otto Neurath. Diese Leute haben das Potenzial der Moderne radikal eingefordert, während viele Intellektuelle nurmehr zu Rückzugsgefechten angetreten sind.

Man kann auch ein wenig Demut lernen – denn was ist schon die Macht all der Technik, ohne die entsprechenden Ideen? Und Otlet, der gewaltige Ideen hatte, ging auf die Techniker zu, er forderte Lösungen von den Ingenieuren. Das beeindruckt mich letztlich am meisten, dass da einer eben nicht die Möglichkeiten abwartet, die Technik ihm bietet, sondern versucht diese zu aktivieren.

Frank Hartmann spricht in Panel 3 des TOTAL RECALL – The Evolution of Memory – Symposiums am 8. September 2013 im Brucknerhaus in Linz / Österreich. Das gesamte Programm des Symposiums gibts unter ars.electronica.art/totalrecall zu sehen.