Die Angst vor dem „Ansturm“

Simon Hadler,

Mit seinen Faktenchecks versorgt der Journalist Simon Hadler die LeserInnen von ORF.at regelmäßig mit aufschlussreichen Reportagen zu den Themen Flucht und Asyl – und räumt dabei mit Mythen und Vorurteilen in der Flüchtlingsdebatte auf. Gemeinsam mit einem Betroffenen, einem zwanzigjährigen Flüchtling aus Syrien, versucht der für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnete Journalist am DO 14.4.2016, 20:00, bei Deep Space LIVE im Ars Electronica Center Linz (Eintritt: 3 Euro oder ein gültiges Museumsticket) die wirklich wichtigen Fragen in diesem öffentlichen Diskurs in den Mittelpunkt zu rücken. Nach der Rückkehr von einer weiteren Journalistenreise hat sich Simon Hadler für unsere Fragen Zeit genommen.

Liegt das Problem bei all den öffentlich geführten Debatten über einen „Flüchtlingsstrom“ nicht schon allein in der Sprache, wie wir darüber reden, und in der Vorstellung, dass man diesen „Strom“ „regulieren“ kann wie einen reißenden Bach?

Simon Hadler: Das war Phase eins: Es ging um die Entmenschlichung von Menschen – und dabei ist die Sprache ein wichtiges Mittel. „Strom“, „Flut“, „Ansturm“ – all das erinnert an Naturkatastrophen. Flüchtlinge gab es nur als abstrakte Masse – in trockenen Statistiken oder als diffuse Feindbilder. Dem standen dann aber immer mehr Bilder gegenüber, auf denen man Kinder, Frauen und Männer sieht – wie jetzt in Idomeni. Das sind Menschen – und zwar Menschen, die ganz offensichtlich leiden. Aber selbst dafür wurde vorgebaut. Außenminister Sebastian Kurz erklärte es in Anne Wills Talkshow so: „Die Bilder sind furchtbar, aber wir sollten nicht den Fehler machen zu glauben, dass es ohne diese Bilder gehen wird.“

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Das heißt: Wenn die Entmenschlichung nicht mehr funktioniert, muss man zur Abstumpfung übergehen. Nach dem Motto: Das sind eben die Bilder der Leidenden – wenn wir nicht wollen, dass ein Teil unserer nationalen Budgets für diese Leidenden ausgegeben wird, dann gewöhnen wir uns eben an Bilder von Leidenden. Sonst geht sich die nächste Steuerreform vielleicht nicht aus. Einen Tag weniger auf Urlaub fahren? Dann lieber Bilder von Leidenden vorgesetzt bekommen. Das ist ein entscheidender Schritt, der weit über Rhetorik hinausgeht: Wir leugnen das Leid von Menschen nicht mehr, wir finden uns damit ab. Egoismus ist als politische Größe damit offiziell salonfähig gemacht worden.

Spätestens wenn staatliche Maßnahmen gegen die „Flüchtlingskrise“ die eigene Fahrt in den Urlaub durch Grenzkontrollen verzögern, fühlen sich viele ÖsterreicherInnen auch selbst davon „betroffen“. Fehlt es uns in Europa an Einfühlungsvermögen, an einem „Face Swap“ mit den Betroffenen?

Simon Hadler: An dem fehlt es nicht nur in der „Flüchtlingskrise“. Die Ursachen dafür sind scheinbar von Land zu Land verschieden. Es ist nicht schwer, sich mit ein wenig Küchenpsychologie auszumalen, wieso Länder des ehemaligen Ostblocks keine Flüchtlinge wollen: „Solidarität“ ist dort als Schlagwort aus der Mode gekommen, das „Teilen“ hat als Tugend ausgedient, zumal in wirtschaftlich schwierigen Zeiten. Aber auch in Österreich ist das Realeinkommen der unteren 15 Prozent an Einkommensbeziehern in den letzten 15, 20 Jahren deutlich gesunken. Dass die Schuld daran ausgerechnet Mindestsicherungsbeziehern und Asylwerbern zugeschoben wird, ist politischer Propaganda geschuldet. Einfache Antworten sind gefragt.

Historisch gesehen ist Einfühlungsvermögen dann am schwersten zu vermitteln, wenn „die anderen“ als besonders fremd wahrgenommen werden, man denke an die „Barbaren“ in der Antike. Die „Barbaren“ – das waren immer die anderen. Wohin das führen kann, weiß man nicht erst seit dem 20. Jahrhundert. Das Projekt der Aufklärung sollte seit 250 Jahren solchen Tendenzen entgegenarbeiten, muss aber immer wieder aufs Neue verteidigt werden. Scheinbar ist Einfühlungsvermögen in politischen Kategorien weniger leicht zu vermitteln als Egoismus. Oder es versucht nur niemand ordentlich.

Saatari

Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien, Credit: Simon Hadler

Sie haben sich selbst ein Bild von der Situation im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari gemacht. Welche Gedanken gingen Ihnen durch den Kopf als Sie zurück in Wien aus dem Flugzeug gestiegen sind? Deckt sich Ihr persönlicher Lokalaugenschein mit den Erwartungen, die Sie sich zuvor aus den Medienberichten gebildet haben?

Simon Hadler: Das ist seltsam. Bei solchen Pressereisen, die von Hilfsorganisationen zum Teil bezahlt und fast zur Gänze organisiert werden, folgt Termin auf Termin. Wenn ich bei solchen Reisen „im Feld“ bin, versuche ich zwar empathisch zu agieren, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, fehlen für echte Gefühle vor Ort die Zeit und die Nerven. Ich will brauchbare Fotos schießen und in den wenigen Minuten, die pro Gespräch zur Verfügung stehen, möglichst schnell auf den Punkt kommen, was Konzentration erfordert. Im Flieger wird eine erste Vorauswahl der Fotos gemacht, oder ich schreibe schon einmal die Fakten für den Artikel zusammen.

Die Gedanken beginnen erst zu schwirren, wenn ich zu Hause in Ruhe ein, zwei Nächte darüber geschlafen habe. Plötzlich beginnen sich die einzelnen Schicksale im Kopf von dem abzuheben, was man vorher aus Medienberichten zur Genüge kennt. Das war bei Zaatari nicht anders. Da sehe ich dann erst auf den Fotos das Leid in den Augen der Kinder. Und verstehe plötzlich, warum der Vater mich zur Seite genommen und leise, aber eindringlich darüber ausgefragt hat, wie man es noch schaffen kann, nach Europa zu kommen. Den Unterschied zwischen Lokalaugenschein und schon Bekanntem macht genau dieses Gefühl aus – sonst müsste man ja gar nicht wegfahren. Und genau dieses Gefühl versuche ich dann in meinen Artikeln zu vermitteln, was eine gefährliche Gratwanderung ist. Empathie und Mitleidskitsch liegen oft nur ein Adjektiv weit auseinander. Und Mitleidskitsch bewirkt gar nichts – oder ist sogar kontraproduktiv.

Traiskirchen

Vater und Sohn im Flüchtlingslager Traiskirchen in Österreich, Credit: Simon Hadler

Mit Ihrem Faktencheck möchten Sie Vorurteile über AsylwerberInnen aus dem Weg räumen – welche Vorurteile und welche Ängste halten sich seit dem Sommer 2015?

Simon Hadler: Erstens: Die nehmen uns etwas weg. Unser eigenes Leben wird schlechter durch die Flüchtlinge. Zweitens: Wir mögen die nicht, weil sie rückständige Islamisten sind. Die hassen uns, weil wir für sie Ungläubige sind. Die behandeln ihre Frauen schlecht. Drittens: Die tun uns etwas an. Sie stehlen, begehen Gewaltverbrechen und vergewaltigen unsere Frauen. Das Problem bei allen drei Punkten: Sie lassen sich durch Fakten nicht widerlegen, weil auch dafür ein Narrativ entwickelt wurde: Wer diesen Vorurteilen widerspricht, ist Teil der Propagandamaschinerie der Lügenpresse. Damit gehen alle Argumente ins Leere.

Gerade beim Thema „Flucht“ machen sich die eher unrühmlichen Seiten von „sozialen“ Medien bemerkbar: Man klickt unangenehme Themen aus der Timeline und wird mit Erzählungen und Bildern konfrontiert, die nichts mit der Realität zu tun haben. Wie kann sich das ändern?

Simon Hadler: Top down, bottom up und langsam. Sprich: Erstens durch öffentliche Kommunikation, die Empathie vermittelt. Da sind auf Facebook Medien genauso in die Pflicht genommen wie PolitikerInnen und alle anderen Akteure des öffentlichen Lebens; zweitens dadurch, dass alle, die mit Flüchtlingen zu tun haben, ohne Polemik ihre Erfahrungen weitergeben. Dem entfernten Bekannten vertraue ich immer noch mehr, wenn er in eigenen Worten von seiner Zusammenarbeit mit einem Flüchtling bei einem Projekt erzählt, als einem abstrakten Politiker oder Journalisten. Und alle, die sich in der Debatte engagieren, müssen Strategien finden, nicht zu verzagen. Das Verzagen hat man nach Köln gesehen. Davor schien die Willkommenskultur Mainstream geworden zu sein. Nach Köln kippte die veröffentlichte Meinung wieder zurück. Da haben dann viele aufgegeben und vermeintlich feministischen Rassisten das Feld überlassen. Da muss man schon viel Geduld und einen langen Atem beweisen, wenn man Aufklärungsarbeit betreibt, gerade in „sozialen“ Medien.

Traiskirchen

Eine „Wohnsiedlung“ im Flüchtlingslager Traiskirchen in Österreich, 2015. Credit: Simon Hadler

In einem Interview mit dem „Standard“ hat der Flüchtlingskoordinator Kilian Kleinschmidt kürzlich gemeint, dass die allermeisten von uns ohne Facebook und Co. so gut wie gar nichts von den Flüchtlingen mitbekommen würden. Wie sehen Sie das Verhältnis zwischen echter und virtueller Flüchtlingskrise? Und zwischen echter Empathie und „digitaler“ Empathie durch Emotions?

Simon Hadler: Ein Kulturpessimist würde jetzt antworten: Die allermeisten von uns würden ohne Facebook und Co. sowieso überhaupt gar nichts mehr mitbekommen, Flüchtlinge hin oder her. Ich sehe das so: Die Mediennutzung geht durch soziale Netzwerke nicht per se zurück, aber es ändert sich das Mediennutzungsverhalten. Früher gab es lineare Entscheidungsprozesse darüber, welche Informationen wir erhalten. Der Sendungsverantwortliche der ZiB hat entschieden, welche Nachrichten das ganze Land um 19.30 Uhr in welcher Reihenfolge vorgesetzt bekam. Jetzt ist zum Teil unser virtueller Freundeskreis der Gatekeeper. Es entscheiden die „friends“, welche Nachrichten sie via ZiB-Facebook-Site beziehungsweise tvthek.ORF.at teilen, welche Artikel von Online- und Printmedien sie sharen. Das ist tatsächlich ein Problem, weil sich Tendenzen im Freundeskreis dann immer weiter verstärken und andere Meinungen außen vor gelassen werden. Man lebt in einer Meinungsblase. Das hat man besonders stark in der Flüchtlingskrise gesehen.

Ein Beispiel: Laut letzten Zahlen sind Asylwerber mutmaßlich für drei Prozent der angezeigten Sexualdelikte verantwortlich. Das heißt: Eigentlich müsste man in seinem Freundeskreis 97 Zeitungsmeldungen über Sexualdelikte anderer Täter geteilt bekommen, bevor drei Artikel über Sexualdelikte von Asylwerbern folgen. Das Gegenteil ist der Fall – und dadurch entsteht der Eindruck, dass Horden vergewaltigender Syrer und Afghanen durch die Länder ziehen. Aber nicht nur die sogenannten „Asylgegner“ leben in einer solchen Meinungsblase. Das trifft auch auf Menschen zu, die Flüchtlingen gegenüber positiv eingestellt sind. Hätte ich nicht den einen Kindergartenfreund und die eine Nachbarin als Facebook-Friends, ich hätte anhand meiner Facebook-Lektüre letztes Jahr glauben müssen, 100 Prozent der Österreicher heißen Flüchtlinge mit offenen Armen willkommen.

Und was die Empathie betrifft, lädt Facebook wie auch in allen anderen Belangen zur Selbstinszenierung ein. Nicht jeder, der beim Facebook-Kettenbrief mit den zehn Lieblingsbüchern mitmacht und auf seine Liste Tolstoi und Pynchon schreibt, ist ein literaturaffiner Intellektueller. Und nicht jeder, der engagierte Artikel über Flüchtlinge teilt und mit pathetischen Kommentaren versieht, würde im echten Leben an Flüchtlingen auch nur anstreifen wollen. Überspitzt formuliert: Wir sind weltoffen und empathisch. Aber unsere Kinder in eine „Ausländerklasse“ schicken? Nie im Leben. Man passt sich eben der Meinungsblase an, in der man lebt. Man schwimmt mit dem Strom.

Simon Hadler, geboren 1976 in Wien, studierte Kommunikations-, Politikwissenschaft und Kulturanthropologie mit Schwerpunkt Migration in Wien und Lissabon. Seit 1999 ist er Redakteur bei ORF.at, seit 2009 leitender Kulturredakteur. Für seine Reportagen zu sozialen und gesellschaftspolitischen Themen wurde er mehrfach ausgezeichnet. Er lebt mit Frau und zwei Söhnen in Wien, die Familie hat eine junge Syrerin und ihr Baby aufgenommen. Simon Hadler ist Autor des Buchs „Die Angst vor dem ‘Ansturm’. Fakten und Schicksale: Basiswissen für die laufende Asyl-Debatte – eine Momentaufnahme, die bleibt.“

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