Turnton Docklands: Zwischen Zukunftsvision und begehbarer Umweltdystopie

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Wir schreiben das Jahr 2047. Die Umweltzerstörung der vergangenen Jahrzehnte zeigt verheerende Auswirkungen, eine Katastrophe scheint unvermeidlich. Fast wie zum Trotz entsteht im Hafen einer kleinen Küstenstadt ein utopischer Gegensatz, eine Gesellschaft, die mitten in der Umweltdystopie wieder zu Solidarität und einem nachhaltigen Miteinander gefunden hat.

Was wie die Handlung eines Science Fiction Romans klingt, wird beim Ars Electronica Festival 2017 Wirklichkeit. Das Linzer KünstlerInnenkollektiv Time’s Up wird als FEATURED ARTIST die Räume des LENTOS Kunstmuseums in eine begehbare Situation verwandeln, in Turnton Docklands. Der Raum selbst wird zur eigentlichen Ausstellung, der erlebt, berührt, durchsucht und erarbeitet werden will.

Seit über zwanzig Jahren arbeitet Time’s Up nun schon mit experimentellen Situationen. Sie nennen sich ein Laboratory for the composition of experimental situations, manchmal auch laboratory for the construction of experimental situations. So flexibel wie der Name ist auch die Gruppenkomposition –  mal arbeiten fünf Leute an einer Story, mal fünfzehn. Fakt ist: Ob Komposition oder Konstruktion, die Welten, in die sie regelmäßig ihr Publikum entführen, beeindrucken durch ihre Details und liebevoll gesponnenen Geschichten.

Tina Auer, Tim Boykett und Andreas Mayrhofer, drei der Mitglieder von Time’s Up, geben einen Einblick in ihre Arbeit und verraten, in welche fiktive Welt sie uns im September entführen.

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Andreas Mayrhofer bei der Arbeit. Credit: Vanessa Graf

Viele eurer Werke sind phsyical narratives. Was ist das und wie entstand die Idee?

Tim Boykett: Physical narratives, das ist die Idee von einer Welt, von einem Raum, in den man hineinspaziert, als ob Leute gerade davongegangen wären. Die Vorarbeiten dazu waren sehr welt-bauend, aber wir inszenierten noch keine Charaktere. Mit der Zeit  bauten wir Menschen, Stories ein, narratives eben, und erstellten Welten, in denen man die Spuren von Leuten, die darin tätig waren, vorfindet. Man bietet dem Publikum an, protowissenschaftlich zu arbeiten: Was ist vorgefallen? Ist etwas Bösartiges passiert? Wir hatten zum Beispiel schon Mordgeschichten oder Banküberfälle, bis hin zu Welten, wo man hinkommt und es ist auf einmal alles anders – wie bei Turnton Docklands. Es ist eine prognostizierte Zukunft.

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Credit: Time’s Up. 

Tina Auer: Es geht grundsätzlich ums Geschichtenerzählen. Über Geschichten erklärt man sich ganz gern die Welt. Es war von Relevanz für uns, dass wir uns nicht nur in Environments, die doch irgendwie nur der Unterhaltung dienen, bewegen. Wir wollen definitiv nicht die ganze Welt erklären, aber wir würden ganz gerne etwas erzählen. Ich glaube, so haben wir uns dann auch anfänglich überheblich vorgenommen, ein neues Medium zu schaffen, und das waren diese begehbaren Erzählungen.

Man entfernt sich ein bisschen davon, dass man etwas präsentiert bekommt, dass man etwas nur lesen kann oder sich nur frontal damit unterhält. Man muss sie sich tatsächlich erarbeiten, diese Geschichten. Es ist sehr wichtig für uns, das Publikum soweit einzubinden, dass, desto mehr Zeit es in der Welt verbringt, desto interessierter es ist, desto mehr es erforscht, sich umso mehr aus der Geschichte eröffnet. Es bleibt immer noch ein Interpretationsrahmen, wir sind keine perfekten Autoren und Autorinnen, sondern wir geben nur ein paar Hinweise, Ansatz- oder Andockstellen. Dann kann sich die Geschichte für das einzelne Publikumsmitglied erschließen.

Tim Boykett: Das Wesentliche ist diese Diskussion zwischen den Personen, die in der Story sind –  wenn sie anfangen, darüber zu reden, was sie vorfinden, selbst Hypothesen haben und viel mehr dazu denken, als wir uns dabei gedacht haben. Oder in ganz andere Richtungen denken, die für sie persönlich Sinn ergeben. Das sehen wir seit 20 Jahren bei allen Installationen: Die Leute fangen an zu erklären, was sie wahrnehmen. Es ist ein wunderschönes Erlebnis, zu sehen, wie vielfältig das ist.

Wie sieht der kreative Prozess aus, der hinter so einer phsyical narrative steckt?

Tim Boykett: Es ist immer unterschiedlich. Am einfachsten ist es vielleicht, mit einem Genre anzufangen, wie bei einem Krimi oder dem Banküberfall. Bei Turnton Docklands haben wir eine Welt gebaut und dann angefangen, Charaktere und Situationen zu suchen. Bei anderen Stories fangen wir mit Charakteren an und lassen von dort an die Story wachsen.

Andreas Mayrhofer: Manche Stories sind auch ortsgebunden – der Ausstellungsort ist zum Beispiel ganz klein, da ist es nicht mehr ein begehbarer Raum, sondern zum Beispiel ein Reisekoffer.

Tina Auer: Es gibt also keineswegs eine Methode oder eine einzige Struktur, einen einzigen Rahmen, den wir abschreiten. Es ist jedes Mal anders. Das ist auch relativ wichtig für uns, weil wir ziemlich schnell gelangweilt sind. Müssten wir mit einem Excel Spreadsheet durchmarschieren, dann hätten wir auf jeden Fall schon aufgehört. So ist es jedes Mal wieder aufs Neue eine Herausforderung, es sind auch immer wieder andere Menschen dabei, jeder hat auch andere Zugänge, wie so etwas funktionieren kann. Dadurch bleibt es relativ beweglich. Es gibt für die physical narratives also teilweise leider und teilweise dann auch glücklicherweise einfach kein fertiges Rezept, nach dem wir uns bewegen.

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Die Time’s Up Werkstätten liegen mitten im Linzer Hafen. Credit: Vanessa Graf

Wann ist eine physical narrative für euch fertig?

Andreas Mayrhofer: (lacht) Eigentlich nie.

Tina Auer: Gelegentlich kommt ein neuer Inhalt dazu, den man in diese existierende Geschichtswelt, diese story world, einfügt. Oder ein neues Signal, das man wiederum in die Zukunft projizieren oder extrapolieren kann und möchte. Fertig sind sie nie, vor allem die story worlds definitiv nie. Möglicherweise kann man über einzelne Situationen, einzelne phsyical narratives, sagen: Gut, das ist jetzt in sich abgeschlossen. Was aber nicht heißt, dass man nicht noch ewig daran andocken und sie wieder erweitern kann. Oder dass man diesen Prozess nicht wirklich stoppt, und auch nie wirklich zufrieden ist.

Tim Boykett: Wie auch das Publikum interpretiert und mehr erfährt, passiert uns das auch. Manchmal, nachdem ein Stück fertig ist, erkennen wir, dass eine der Kernideen ganz etwas anders sein sollte als wir ursprünglich gedacht hatten. Es sagt dann manchmal einfach viel mehr aus. Das ist sehr schön.

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Schon jetzt wird an der Ausstellung gearbeitet. Credit: Vanessa Graf

Wie lange dauert die Entstehung einer Situation?

Andreas Mayrhofer: Ich würde sagen von einem Monat bis zu zweieinhalb Jahren.

Tina Auer: Mind the Map dauerte sogar fast drei Jahre, auch bei Turnton Docklands arbeiten wir an den Inhalten oder der zugrundeliegenden Story World schon bereits eineinhalb Jahre. Es ist ganz verschieden.

Andreas Mayrhofer: Man hat mittlerweile schon ein bisschen Beweglichkeit, was die Dauer angeht. Wir waren früher wirklich ganz stark raumzentriert, mittlerweile haben wir es aber wirklich auch geschafft, dass sogar kleine Interfaces in sich abgeschlossen funktionieren und trotzdem eine Geschichte erzählen. Das heißt also, dass wir beweglicher geworden sind.

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Das Modell für Turnton Docklands im LENTOS steht bereits. Credit: Vanessa Graf

Was erwartet uns bei Turnton Docklands im September?

Tina Auer: Es ist eine mögliche Zukunft, also eine der möglichen Zukünfte. Wir denken Zukunft immer gerne plural, weil wir davon ausgehen, dass es nicht die Eine geben wird, sondern sehr viele. Wir sprechen mit Turnton Docklands eigentlich von einer eher nahen Zukunft, wir gehen in das Jahr 2047, und wir gehen davon aus, dass sich die Umweltbedingungen noch einmal maßgeblich verschlechtern werden. Das ist extrapoliert von heute –  sie wird relativ bitter und böse, diese ökologische Ebene. Wir halten dem aber eine sehr positive, fast utopische Idee entgegen –  zivilgesellschaftlich, politisch und auch ökonomisch. Wir wollten auf keinen Fall nur die Dystopie zeichnen, oder nur dieses Apokalyptische. Das ist zu langweilig und war uns auch zu wenig. Es gibt dafür eigentlich schon viel zu viele positive Signale und Trends im Jetzt und auch schon in den letzten Jahren, die haben wir extrapoliert. Ganz wichtig: Wir machen keine Prognosen, sondern nur Vorschläge, wie sich die Welt teilweise, auch bestenfalls, entwickeln könnte.

Andreas Mayrhofer: Na ja, was die Umwelt angeht könnte es schon besser sein. Wir gehen davon aus, dass umwelttechnisch eine Dystopie vorherrscht, gesellschaftlich dafür richtige Aufbruchsstimmung oder Utopie. Aus der Not heraus hat sich eine Art von Solidarität entwickelt, wodurch man ans Eingemachte geht und ein anderes Leben gestaltet.

Tina Auer: Change was our only chance, das ist eines der verschiedenen Mottos.

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Credit: Elisa Unger

Gibt es schon konkrete Objekte, auf die man im LENTOS bei der Ausstellung treffen wird?

Tim Boykett: Die Zeitung ist wahrscheinlich eines von den Objekten, das sehr klar ist und viel erzählt. Es gibt auch das New Neighbors Integration Bureau. Hier steckt die Idee dahinter, dass Leute, die unterwegs sind, nicht mehr Migranten oder Migrantinnen sind, sondern neue Nachbarn. Es gibt ein Fest, das angepriesen wird, das im Prinzip gleich nach der Ausstellung stattfindet. Auch Plakate dafür, Diskussionen darüber. Das alles ist ein Teil der Auseinandersetzungen: Wie gehen wir mit neuen Nachbarn um? Es ist ein zentraler Teil der Ausstellung, auch des Konzepts von Turnton, und das findet man in verschiedenen Teilen in der ganzen Ausstellung.

Tina Auer: Ein anderes, sehr klares, physikalisch, haptisch vorhandenes Objekt, oder eigentlich eine Kulisse, ist die Ocean Recovery Farm. Hier wird darauf hingewiesen, dass man mit Algen sehr gut Wasserreinigung betreiben kann, sie aber auch als Nahrungsergänzungsmittel funktionieren. Wir arbeiten dafür mit einer sehr spannenden Firma zusammen, Ecoduna, die uns helfen und unterstützen.

Tim Boykett: Man sieht es an den Beispielen: Wir nehmen Dinge, die jetzt existieren, gerade zum Leben kommen. Seaweed Farming ist zum Beispiel etwas, das in Asien schon weiter verbreitet ist und in Europa und Amerika gerade relevant wird. In Niederösterreich fängt Ecoduna jetzt an, damit sehr präsent zu sein. Wir extrapolieren diese Ideen weiter in die Zukunft. Technologische, aber auch soziale und gesellschaftliche Ideen.

Andreas Mayrhofer: Die ganze Komplexität erschließt sich über unterschiedliche Medien, wie etwa die angesprochene Zeitung. Es wird auch eine Bar geben, in der Alltagsgespräche stattfinden, in die natürlich diese ganzen Zukunftsthemen hineinfließen. Das funktioniert einfach ganz beiläufig. Haptisch hat man diese ganzen Unternehmungen und Privaträume in irgendeiner Form da, sie schauen ähnlich aus wie jetzt, sind aber doch anders, weil sie eben in einer anderen Zeit spielen.

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Credit: Vanessa Graf

Wie sind die Reaktionen auf die physical narratives? Gibt es welche, die euch besonders im Gedächtnis geblieben sind?

Andreas Mayrhofer: Bei dem Mordfall zum Beispiel haben wir ein paar Sachen aufgezeichnet. Das hat auch ganz gut funktioniert, weil sich dann Dinge im Raum „bewegt“ haben. Für mich hat es sogar so gut funktioniert, dass ich selbst beim Reparieren wieder darauf reingefallen bin und glaubte, es wäre jemand im Raum.

Tim Boykett: Wir hatten auch ein Beispiel, wo ein Sturm nachgestellt wurde. Leute waren in diesem Raum, haben den Sturm erlebt und sagten beim Aufstehen: „Ach, ich hab meinen Regenschirm nicht mit!“ Draußen schien die Sonne. Die haben völlig vergessen, dass es ein ganz normaler Sommertag war.

Tina Auer: Grundsätzlich sind die Reaktionen sehr unterschiedlich. Was ich spannend finde: Alles, was das Publikum vorfindet, ist inszeniert. Die Einladung ist, es anzugreifen, zu stöbern, zu suchen, zu erforschen. Hier gibt es eine Hemmschwelle, weil die Ausstellung ist dennoch relativ häufig in einem sehr herkömmlichen Kunstkontext. Don’t Touch the Art ist nach wie vor ein Thema. Diese Hürde zu überschreiten, das schaffen nicht alle. Aber dann, in dem Moment, in dem diese Hürde überschritten wird, ist es sehr spannend, denn dann gibt es oft kein Ende. Wir haben bemerkt, dass nur zur Zierde oder zur Deko gar nichts stehen darf, weil wirklich alles erforscht und untersucht wird. Das ist spannend, dieser Punkt, an dem die Leute tatsächlich eintauchen und reinkippen. Es entstehen dadurch teilweise wirklich sehr lange Aufenthaltszeiten. Das ist immer sehr schön für uns.

Mind The Map, eine weitere physical narrative

Noch kurz ein letztes Beispiel: Bei einer Geschichte, bei der es um Migration, Immigration, Emigration zwischen Österreich und Amerika ging, erlebte ich, dass jemand, der eine sehr ähnliche Familiengeschichte hatte, tatsächlich mit Tränen vor der Arbeit saß und sagte, es wäre wie eine Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Wir bekamen dann wiederum die Geschichte von dieser Person, die eigentlich als Publikum da war. Man erzählt also eine Geschichte und bekommt eine andere Geschichte zurück. Es ist ein wunderschöner Kreislauf. Darum glaube ich, dass es für Geschichten an und für sich nach wie vor relativ wichtig ist, erzählt zu werden.

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Das KünstlerInnenkollektiv Time’s Up, gegründet 1996, hat sein Hauptquartier im Linzer Hafen. Die KünstlerInnen untersuchen die Art und Weise, wie Menschen interagieren, lernen, kommunizieren und ihre physische Umgebung als kompletten Kontext erforschen und entdecken. Ihre Forschung basiert auf dem Aufbau von interaktiven Situationen, zu denen das Publikum allein und in Gruppen zur erfahrungsorientierten Erforschung des Raumes und seiner Verhaltensweisen eingeladen wird. In diesem Forschungsprozess nutzen sie Werkzeuge aus den Bereichen Kunst und Design, Mathematik, Naturwissenschaften und Technik sowie Soziologie und Kulturwissenschaften.

Die physical narrative Turnton Docklands wird beim Ars Electronica Festival, von 7. Bis 11. September 2017,  im LENTOS Kunstmuseum zu erleben sein. Darüber hinaus kann man Turnton Docklands bis 22. Oktober 2017 besuchen. Um mehr über das Festival zu erfahren, folgen Sie uns auf Facebook, Twitter, Instagram und Co., abonnieren Sie unseren Newsletter und informieren Sie sich auf ars.electronica.art/ai/ .

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